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20 Jahre Johannes-Rau-Stipendiatenprogramm

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Eine Broschüre des Pädagogischen Austauschdienstes. Kostenlos erhältlich im Webshop www.kmk-pad.org/shop

Wie entwickelt sich der

Wie entwickelt sich der Umgang mit der eigenen und der gemeinsamen Geschichte in Deutschland und Israel angesichts der sich durch Wertewandel, Migration und Generationenwechsel dynamisch verändernden Gesellschaften? Welche Ansätze können helfen, diesen mehrdimensionalen Wandel im Hinblick auf die eigene Geschichte und die zukünftigen gemeinsamen Beziehungen positiv zu gestalten? How does the way of dealing with one's own and with the joint history of Germany and Israel evolve, given the dynamic change of societies as a result of the change of values, migration and the change of generations? Geschichte und Erinnerung Geschichte wird immer aus der Gegenwart gesehen und geschrieben. Das kann einerseits bedrohlich erscheinen, da Relevantes umgedeutet oder gar vergessen werden kann, andererseits befreiend, da Geschichte nicht starr ist, sondern immer wieder ein neues Verständnis über Menschen und Gesellschaften eröffnen kann. Dieser Prozess verläuft jedoch nicht linear und auch nicht zwangsläufig auf einen Zugewinn an Erkenntnis hinaus. Vielmehr entwickeln sich Diskurse in einem Spannungsfeld zwischen Interessen gesellschaftlicher Gruppen, aktuellen Themen und ‒ teilweise aktiv betriebener ‒ politisch motivierter Einf lussnahme. Der Historiker Dan Diner (Hebrew University) verweist in diesem Kontext auf die Erinnerungsgeschichte des Holocaust bzw. der Schoah. Es brauchte in der jungen Bundesrepublik Deutschland Jahrzehnte, bis in die 1970er- und 1980er-Jahre, bevor allmählich ein breiter gesellschaftlicher Diskurs entstand und das Thema in Wissenschaft und Schule vertieft und systematisch behandelt wurde. Zwischen Klischee und Erkenntnis Wohl kaum zu einer anderen Gesellschaft besteht aus deutscher Sicht eine mit so tiefen Abgründen versehene und gleichzeitig unverbrüchliche Beziehung auf politischer und gesellschaftlicher Ebene wie zu der in Israel. Doch wie in allen Beziehungen bedarf es der immer neuen wechselseitigen Wahrnehmung und Weiterentwicklung. Dass diese auf einem unverrückbaren Fundament von Werten und Geschichte ruht, steht dabei außer Frage. Aber die Beziehung muss auch immer aufs Neue belebt werden – das gilt besonders für die junge Generation. Dazu bedarf es dann mehr, als den – im besten Falle – unerlässlichen historischen Rekurs oder – im schlechtesten Falle – das Zurückfallen auf Klischees über die anderen. Fahrt hin, schaut selber, tretet in Kontakt, macht Erfahrungen und begründet Verbindungen, lässt sich die Forderung des Schriftstellers Marko Martin zusammenfassen. Geschichte ist zwar per Definition Vergangenes und kann nicht nacherlebt werden, da sie vorüber ist. Aber die Erinnerungsorte und das Erleben und History and remembrance History is always considered and written from the point of view of the presence. On the one hand, this may look as a threat, as relevant issues may be reinterpreted or even forgotten, on the other hand it may be a relief, as history is not inflexible but may always result in new ways of understanding people and societies. However, this process is not a linear one, and it does not necessarily result in a gain in insight. Rather, discourses develop within an area of conflict between the interests of groups of society, current issues and sometimes actively promoted, politically motivated influence. In this context, historian Dan Diner (Hebrew University) points out to the remembrance history of the Holocaust or the Shoah. In the Federal Republic in its early years it took decades, until the 1970s and 1980s, before gradually there developed a broad discourse among society and the issue was systematically dealt with and consolidated in the sciences and at schools. Between cliché and insight From the German point of view, the country has established relations to Israel which, on the levels of politics and society, are so cryptic while at the same time inviolable that they can hardly be compared to those with any other country. However, like with all other relations, mutual perception and further development must frequently be re-established. Just the same, it is unquestionable that these relations are based 16

Dr. David Gilgen ist Historiker und lehrt und forscht unter anderem an der Universität Bielefeld. Dr. David Gilgen is a historian. He teaches and researches at the University of Bielefeld, among others. Kennenlernen anderer Menschen, ihrer Gesellschaft, Kultur und Geschichte kann ein Interesse entfachen, wie es sonst kaum möglich wäre. Die Neugier, Erlebnisse vor Ort selbst verstehen und einordnen zu wollen, führt oft zu historischen Erklärungen. Dieser zivilgesellschaftliche Ansatz, der auf lange Sicht große Wirkung entfalten kann, ist für das gegenseitige gesellschaftliche Verständnis unerlässlich. So verweist der Historiker Moshe Zimmermann (Hebrew University) im Kontext der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1965 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel und des Sechstagekrieges darauf, dass ein Ereignis wie das Fußballspiel von Borussia Mönchengladbach in Israel 1970 »eine Art von Wende in der israelischen öffentlichen Meinung« begründete und damit von nicht zu unterschätzender Wirkung für das Ansehen und die neu begründeten Beziehungen zu Westdeutschland war. Dieses Spiel fand zu einem Zeitpunkt statt, zu dem noch viele Überlebende der Schoah in Israel lebten. Für sie waren die deutsch-israelischen Annäherungen zweifellos viel stärker von der historischen Erfahrung geprägt, als dies bei der heutigen Generation der Fall ist. Generationenwandel und Erinnern Die damit verbundene Frage des Erinnerns angesichts des Generationenwandels ist oft diskutiert worden. Drohend steht dahinter die Befürchtung, dass über die Zeit grundlegende, identitätsstiftende Elemente des Erinnerns relativiert würden und verloren gehen könnten. Dies wird noch dadurch gesteigert, dass sowohl Deutschland als auch Israel als Migrationsgesellschaften sich im demografischen Wandel befinden. Wachsende Teile der Bevölkerung sind on an unalterable foundation of values and history. But the relation must be revived again and again – this holds particularly for the young generation. Then this requires more than – in the best case – referring to history or – in the worst case – falling back to clichés about the others. Go there, have a look for yourself, make contact, and establish connections, this is how the demand by author Marko Martin may be summarised. Indeed, by definition history is that what has been and thus cannot be relived, as it is over. But the places of remembrance and experiencing and meeting other people, their societies, cultures and histories may trigger a degree of interest which would otherwise hardly be possible. Of ten it is the curiosity for achieving one's own ways of understanding on-site, which results in historical explanations. This civil-society approach, which may have much ef fect in the long run, is inevitable for the mutual understanding of societies. Accordingly, in the context of establishing diplomatic relations between the Federal Republic of Germany and Israel in 1965 and of the Six-Days-War, historian Moshe Zimmermann (Hebrew University) points out that events such as the football match of Borussia Mönchengladbach in Israel in 1970 caused ‘a kind of change of the public opinion in Israel’ and that thus its ef fect on the reputation and the newly established relations to Western Germany cannot be underestimated. This match happened at a time when many survivors of the Shoah were still alive in Israel. For them, without doubt the German-Israeli rapprochement was much more characterised by the historical experience than it is the case with the generation of today. Remembrance and the change of the generations The thus connected issue of remembrance in the face of the change of generations has been much discussed. Behind it there is the threatening fear that over time basic, identity-creating elements of remembrance might be relativised and might even be lost. This fear is even increased by the fact that both Germany and Israel, being migration societies, are in the midst of demographic change. Thus, growing parts of the populations are separated from the histories of their 17

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