2006 » Die Matthäus-Passion von Bach im Großen Saal der Berliner Philharmonie«, daran erinnert sich Ohad Stolarz besonders gerne, wenn er an seinen ersten Besuch in der deutschen Hauptstadt denkt. Als 16-jähriger Schüler verbrachte er im Oktober 2006 als Johannes-Rau-Stipendiat zwei Wochen in Deutschland, gemeinsam mit 19 anderen israelischen Jugendlichen. Über eine Zeitungsannonce war er damals auf das Programm aufmerksam geworden. Ohad bewarb sich, kam zum Auswahlgespräch in die Deutsche Botschaft in Tel Aviv – und wurde ausgewählt. Als Jugendlicher sah er darin vor allem eine willkommene Gelegenheit, die Welt außerhalb seines Heimatstaates Israel kennenzulernen: »Ich komme nicht aus einem Elternhaus, in dem viel gereist wurde, und die meisten Nachbarländer Israels kann man nicht einfach so besuchen. Fast alle Auslandsreisen, die ich als Jugendlicher erlebt habe, fanden über Austauschprogramme und Schuldelegationen statt. Ich habe zum Beispiel auch einmal an einem Chanson-Abend für Schulen teilgenommen und so eine Reise nach Frankreich gewonnen«, erzählt er. Obwohl Ohads Großeltern mütterlicherseits aus Deutschland stammen, hatte er eine eher vage Vorstellung dessen, was ihn hier erwarten würde. Der musikbegeisterte junge Mann kannte die deutsche Klassik und hatte sich in der Schule vor allem mit der Geschichte des Holocaust beschäftigt: »In Israel lernt man natürlich viel über den Zweiten Weltkrieg. Ich wusste wahrscheinlich mehr über die Geschichte als über die Gegenwart Deutschlands«, sagt er. Kontroverse Diskussionen in der Gruppe Nur wenige Wochen, bevor Ohad seine deutsche Gastfamilie persönlich kennenlernen kann, kommt es im Sommer 2006 zu Kämpfen zwischen der Hisbollah und Israel – dem »33-Tage-Krieg«, der Mitte August mit einem Waffenstillstand endet. Vor der Abreise beschäftigte Ohad deshalb vor allem die Frage: Was wissen und denken die Jugendlichen in Deutschland über Israel? In Leipzig wurde er herzlich empfangen: »Das Mädchen, bei dessen Familie ich wohnte, war sehr nett zu mir. Ich kannte bisher keine Deutschen in meinem Alter, meine Gastschwester war wirklich die Erste. Und alle Menschen waren interessiert und offen.« Während seines Aufenthalts an der Schule organisiert die Gastfamilie ein ausgiebiges Kulturprogramm für Ohad. Anschließend verbringen die is- Der Stipendiat The scholarship holder Ohad Stolarz, Jahrgang 1989, kommt aus Tel Aviv. Nach Schulabschluss und Militärdienst ging er nach Berlin, wo er an der Hochschule für Musik Hans Eisler studiert. Seit 2016 ist Ohad Stolarz Stipendiat des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks. 2019 erschien sein Buch »Sephardische Volkslieder: Acht Sätze für gemischten Chor«. 2006 nahm er am Programm teil und wohnte bei einer Gastfamilie in Leipzig. Ohad Stolarz, born 1989, comes from Tel Aviv. Af ter graduation from school and military service he went to Berlin, where he studies music at Hochschule für Musik Hans Eisler. Since 2016 Ohad Stolarz is a scholarship holder of Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk. In 2019 his book ‘Sephardische Volkslieder: Acht Sätze für gemischten Chor (Sephardic Folk Songs: Eight Movements for a Mixed Choir)’ was published. He participated in the Programme in 2006 and lived with a host family in Leipzig. ' Bach's St. Matthew Passion in the Great Hall of the Berlin Philharmonie’, this is something Ohad Stolarz particularly likes to remember when thinking about his first visit to Germany's capital. Being a 16-years-old student, together with another 19 young people from Israel he spent two weeks in Germany as a Johannes-Rau-Scholarship holder. His attention had been attracted to the Programme by a newspaper advert. Ohad applied, was invited to an interview at the German Embassy in Tel Aviv – and was selected. Being a youth, he considered this most of all an opportunity to get to know the world outside his home country of Israel: ‘I don't come from a home where there was much travelling, and most of Israel's neighbouring countries are not easy to visit. Almost all foreign stays I experienced as a youth happened by way of exchange programmes and school delegations. For example, once I took part in a chanson evening programme for schools and this way won a trip to France’, he tells. Although Ohad's mother's parents originate from Germany, his ideas of what to expect over here were rather vague. This young music enthusiast was familiar with German classical music, and at school he had most of all been dealing with the history of the Holocaust: ‘In Israel, of course you learn much about World War II. Probably I was more familiar with Germany's history than with the Germany of today’, he says. Controversial discussions among the group Only a few weeks before Ohad was able to personally meet his German host family, in the summer of 2006 fighting started between the Hezbollah and Israel – the so called ‘War of 33 Days’ which was ended by an armistice in mid-August. Thus, before his departure Ohad considered most of all this question: what do the young people in Germany know and think about Israel? In Leipzig he was warmly welcomed: ‘The girl with whose family I was staying was very nice. Up to then, I hadn't known any Germans my age, my host sister was really the first one. And everybody was interested and open-minded.’ During his stay at school his host family organises an extended cultural programme for Ohad. Then the young people from Israel spend a week in Berlin together with their German host brothers and sisters. However, the exchange did not always run smoothly, Ohad remembers. ‘I had a long conversation with my host. And there was no understanding for each other, because we in Israel live in a different reality. Despite the many things we had in common, there were also many dif ferences.’ The young people from Israel participating in the Programme are immediately before their graduation, which will be followed by several 30
aelischen Jugendlichen gemeinsam mit ihren deutschen Gastgeschwistern eine Woche in Berlin. Der Austausch verlief allerdings nicht immer harmonisch, erinnert sich Ohad: »Ich hatte ein langes Gespräch mit meiner Gastgeberin damals. Und wir konnten uns gegenseitig nicht verstehen, weil wir in Israel in einer anderen Realität leben. Trotz der vielen Gemeinsamkeiten gab es auch viele Unterschiede.« Die Jugendlichen aus Israel, die an dem Programm teilnehmen, stehen kurz vor ihrem Schulabschluss, an den sich ein mehrjähriger Wehrdienst anschließt. Mit Aussagen wie »Krieg ist keine Lösung« konfrontiert zu werden, war deshalb für Ohad nicht einfach. »Junge Deutsche dieser Generation haben, was hoffentlich so bleibt, keinen Krieg erlebt und keine Vorstellung davon. Sie leben in einer Welt, in der es für sie keinen vernünftigen Grund gibt, einen Krieg zu führen. Sie hatten kein Verständnis dafür. Und es war schwierig für mich, das zu erklären. Wahrscheinlich bin ich damals auch komisch rübergekommen. Seitdem habe ich viel gelernt, ich würde damit jetzt anders umgehen.« Zum Musikstudium nach Berlin Nach Abschluss seines Militärdienstes in Israel wollte Ohad ein Musikstudium beginnen und dafür ins Ausland gehen. Dass die Wahl auf Berlin fiel, hat nicht nur mit der großen Anziehungskraft der Stadt auf »junge Leute und Musiker« zu tun, sondern ein klein wenig auch mit seinen Erinnerungen aus der Zeit als Johannes-Rau-Stipendiat: »Die Eindrücke haben mich vermutlich auch motiviert, als ich darüber nachdachte, nach Deutschland zu gehen«, sagt er. Noch in Israel beginnen er und seine Freundin, von Beruf Sängerin, einen Sprachkurs und ziehen schließlich 2013 nach Berlin. Deutsch spricht Ohad mittlerweile f ließend. In Sprachbarrieren sieht er im Rückblick auch einen Grund für die Kommunikationsprobleme zwischen den deutschen und israelischen Jugendlichen. Der Austausch fand nämlich auf Englisch statt: »Immer dann, wenn eine dritte Sprache benutzt wird, wird alles ein bisschen verfremdet. Viele Menschen gehen davon aus, dass sie mit Englisch schon klarkommen. Natürlich klappt das irgendwie auch. Aber wenn man an einem Ort im Ausland leben will, dann reicht das nicht. Man kann vielleicht im Restaurant etwas bestellen, aber nicht wirklich am Leben teilnehmen.« Im Berliner Leben ist Ohad angekommen: Nach seiner Ankunft gründet er den Hebräischen Chor Berlin, einen deutsch-israelischen Laienchor. Als Stipendiat des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks beginnt er an der Hochschule für Musik Hanns Eisler ein Studium im Chordirigieren und veröffentlicht im Herbst 2019 ein eigenes Chorbuch mit sephardischen Volksliedern in Ladino, der Sprache der sephardischen Juden. Zwei Lieder daraus wählt sein Professor, der bekannte Dirigent Justin Doyle, sogar für ein Konzert des RIAS Kammerchors aus, das, hätte es nicht aufgrund der Coronapandemie abgesagt werden müssen, im März im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie aufgeführt worden wäre. Für Ohad ist dieser Ort trotzdem mit weiteren unvergesslichen Erinnerungen verbunden: »Immerhin war ich bereits bei den Proben dabei, habe mit der Aussprache des Sephardischen geholfen und den Chor meine Lieder singen hören. Auch das war bereits wunderschön und ein großes Privileg.« years of military service. Thus for Ohad, being confronted with statements such as ‘war is no solution’ was not easy. ‘Young Germans form this generation – and I hope this will stay – have never experienced war, and they have no idea what it means. They live in a world in which they don't see any reason why they should wage war. They couldn't understand it. And I found it dif ficult to explain. Probably, in those days I probably acted somewhat funny. Since then I have learned much, now I would deal with it dif ferently.’ To Berlin for studying music Af ter having concluded his military service in Israel, Ohad intended to start musical studies and to go abroad for this purpose. That his choice was Berlin is not only due to the city's great attractiveness for ‘young people and musicians’ but somewhat also to his memories of his time as a Johannes-Rau-Scholarship holder: ‘Probably my impressions were an added motivation when I considered going to Germany’, he says. Still in Israel, he and his girlfriend, a professional singer, attend a language class, and finally in 2013 they move to Berlin. Meanwhile Ohad is a fluent German speaker. In retrospect, he identifies language barriers as one reason for the communication problems between German and Israeli youths. For, the exchange was in English: ‘Every time when a third language is used, everything is somewhat distorted. Many people believe to somehow get along with English. Of course, somehow this works. But if you want to live at some foreign place, this is not enough. Perhaps you are able to order something at a restaurant, but you cannot really participate in life.’ Ohad has arrived at life in Berlin: af ter his arrival he founded the Hebräischer Chor Berlin (Berlin Hebrew Choir), a German-Israeli choir for amateur vocalists. As a scholarship holder of Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, at Hochschule für Musik Hans Eisler he starts studying how to conduct a choir, and in autumn, 2019, he publishes his own choir book, presenting Sephardic folk songs in Ladino, the language of the Sephardic Jews. His professor, the famous conductor Justin Doyle, even chooses two songs from it for a concert of the RIAS Kammerchor (Chamber Choir) which, had it not been called of f because of Corona, would have happened in March, in the Kammermusiksaal of the Berlin Philharmonie. Nevertheless, for Ohad this place is connected to other unforgettable memories: ‘At least I had already been present during the auditions, I helped with pronouncing the Sephardic language, and I heard the Choir sing my songs. Even this was wonderful and a great privilege.’ 31
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