Forum discoverEU Einfach losfahren Kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, startete der Journalist Alex Rühle zu einer Tour durch Europa. Nach mehr als drei Monaten per Bus und Bahn quer über den Kontinent empfiehlt er jungen Menschen: einfach mutig losfahren – vor allem an unbekannte Orte abseits der »Hotspots«. austausch bildet von alex rühle L etztes Jahr habe ich mir am 10. März in Athen ein Interrailticket gekauft. Die gibt es ja in verschiedenster Ausführung: für ein Land oder für ganz Europa; und für so ziemlich jeden Zeitraum zwischen vier Tagen und drei Monaten. Ich habe das Dreimonatsticket gekauft und anschließend sogar noch einen Monat drangehängt. Weil ich endlich einmal die EU kennenlernen wollte. Dieses seltsame Konstrukt, in dem wir alle zu Hause sind, ohne genau zu verstehen, wie es politisch funktioniert. Aber auch, um einmal zu erfahren, welche Länder überhaupt dazugehören und wie riesig dieses Europa doch ist. 22 000 Kilometer, 106 Tage, 33 Grenzübergänge – die Reise war komplett verrückt und das Schönste, was ich je gemacht habe. Bis heute läuft in meinen Arbeitspausen das Europa-Album über den Bildschirm, die 1200 Fotos, die ich unterwegs gemacht habe und die mir der Algorithmus jedes Mal neu mischt. Gerade jetzt, beim Schreiben dieses Artikels, war zuerst der kleine Park in Lissabon zu sehen, in 26
Forum 27 Foto: Heike Bogenberger dem an jenem Frühlingsabend nur ein Liebespaar unter bunten Glühbirnen rumsaß. Dann der flammend orangene Mitternachtshimmel im nordfinnischen Kemi. Die Festung von Ceuta, diese spanische EU-Enklave in Marokko, umgeben von NATO-Stacheldraht und strahlendem Mittelmeerblau. Und zuletzt die pittoresken Gassen von Delft, Ziegelgebäude, Brückchen, Kanäle, alles einen Meter unterm Meeresspiegel, dank der Nordseedeiche wunderbar trocken, aber wie lange noch? Überall ist es am schönsten Ich werde oft gefragt, wo es denn am schönsten war, und ich kann als Antwort eigentlich nur sagen: Überall! Fahrt einfach los. Und habt am besten den Mut, mitten in die weißen Flecken eurer inneren Landkarte zu fahren, also in die Länder, die ihr noch nicht kennt. Ich zum Beispiel war vorher noch nie in Rumänien und nie in den drei baltischen Ländern. Boah, ist es schön da. Einige Stadtviertel in Riga sind majestätisch wie das Habsburger Wien oder Paris rund um die Champs Élysées. Die einsame Waldlandschaft in Estland ... Oder dieser heiße Frühsommertag, als ich vom rumänischen Constan a aus nach Tulcea bin, in einem uralten Zug, in dem die Waggontüren offenstanden, sodass ich halb draußen saß und die Weizenfelder und Hügel vorbeizogen wie in einem Kinofilm in 3-D. Danach noch mit einem Schiff vier Stunden die riesig breite Donau runter. Am letzten Anlegehafen aussteigen, zu Fuß dem Sandweg bis ans Ende folgen. Und dann, nach hundertsechs Tagen Zuggeruckel, baden gehen, direkt da, wo sich das Süßwasser aus Donaueschingen, Wien und Belgrad mit den Wellen des Schwarzen Meers mischt. Vor allem aber die Menschen. In Athen habe ich einen Arzt kennengelernt, der tagsüber als Kardiologe in einer Klinik arbeitet und sich abends und am Wochenende um Menschen kümmert, die zu arm sind für normale Arztbesuche. Als ich ihn fragte, wie er sich davon erholt, erwartete ich als Antwort so was wie Yoga, Netflix oder Radfahren. Stattdessen erzählte er, dass er in den Ferien nach Äthiopien fliegt, um da Kinder umsonst zu operieren, das gebe ihm viel Kraft ... Der Holzfäller in Schweden, der mich einfach auf seinem Laster mitgenommen hat und spanische Liebeslieder sang. Die britische Fotografin im französischen Vence, die mir, ohne mich wirklich zu kennen, ihr Rennrad geliehen hat: »Du musst dir das Hinterland anschauen, diese Berge, diese Weite.« Im Brüsseler Maschinenraum Erst im Nachhinein fiel mir auf: Ich glaube, ich habe keinen einzigen »Hotspot« gesehen, also so was wie Akropolis, Eiffelturm, all diese vermeintlichen Zentralbauwerke, an denen unsere Kameras herumschlecken wie an einem Gemeinschaftseis, weil wir zu faul sind, die Augen aufzumachen und die Städte und Landschaften selbst zu entdecken. Sollte ich sowas wie ein europäisches Denkmal benennen, es wäre vielleicht der unscheinbare Spazierweg an der slowenisch-italienischen Grenze. Zwölf desaströse Schlachten gab es hier im Ersten Weltkrieg, elf Mal rannten die italienischen Truppen gegen die Deutschen und Österreicher an, wieder und wieder, ohne dass sich die Front nennenswert verschoben hätte. Eine Million Menschen starben, und immer wieder, heißt es in Berichten, der Isonzo habe sich tagelang rot gefärbt. Heute sieht man Äcker, Wiesen und einen türkisstrahlenden Fluss – und man kann beim besten Willen nicht sagen, wann man jetzt in Slowenien und wann in Italien ist, die Grenzen – sie sind verschwunden. Darum zum Schluss doch noch eine Antwort auf die Frage, nein, nicht, wo es am schönsten war. Am eindrücklichsten aber waren für mich vielleicht die Tage in Brüssel und Straßburg, in den beiden riesigen Maschinenräumen der EU, also beim Parlament und bei der Kommission. Zu sehen, wie sehr die Leute, die dort arbeiten, für das europäische Projekt brennen, war einfach großartig. Europäisches Projekt? Was das heißt? Nun, ich würde trotz aller eklatanten Fehler und Schwächen sagen: Freiheit und Frieden. Fahrt deshalb los und schaut es euch an – solange es noch steht. Der nationalistische Populismus ist drauf und dran, diese vielleicht größte politische Erfindung der Geschichte zu demontieren. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Und es lohnt sich auf jeden Fall, darin herumzufahren. Zur Person Alex Rühle war viele Jahre Kulturreporter im Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung« und ist jetzt als Skandinavien-Korrespondent in Stockholm zu Hause. Aus der hier beschriebenen Reise ging das Buch »Europa, wo bist du?« hervor, das im Herbst 2022 bei dtv erschienen ist.
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