von iris ollech E inen Monat benötigt ein Containerschiff für die rund 12 000 Seemeilen lange Passage von Bremens Überseeport Bremerhaven nach Shanghai. Nur Sekunden dauert es, bis die Internetverbindung zwischen Deutschland und China steht. In der Europaschule Schulzentrum Utbremen haben Jugendliche, die am Projekt »Leben in Hafenstädten« teilnehmen, die Flaggen der beiden Länder auf dem Tisch vor sich drapiert und blicken erwartungsvoll auf den Bildschirm an der Wand des Klassenraums. Zugeschaltet sind Schülerinnen und Schüler der Shanghai I&C Foreign Language School. »Moin«, »Ni hao« und »Hello« heißt es zu Beginn der gemeinsamen Videokonferenz. Wochenlang haben beide Gruppen an ihren Präsentationen gefeilt, die sie online zeigen: Beeindruckende Umschlagszahlen des weltgrößten Hafens an der Yangtzemündung. Bilder von gewaltigen Containeranlagen sowie Statistiken, die die Herausforderungen für norddeutsche Werften im globalen Wettbewerb illustrieren. Dazu spannende Einblicke in die touristischen und kulinarischen Besonderheiten der Hafenregionen: die Bremer Stadtmusikanten und der Shanghaier Fernsehturm, deftiger Grünkohl mit Pinkel und im Bambuskörbchen gedämpfte Teigtaschen. Eben diese abwechslungsreiche Kombination aus Faktenwissen und Alltagskultur hatte Nils Peschke im Sinn, als er die west-östliche Begegnung initiierte. »Wir wollten die jungen Leute dafür sensibilisieren, dass es ein großer Gewinn ist, das Leben und die Werte anderer Gesellschaften kennenzulernen«, erläutert er. Der 55-Jährige leitet die Übungsfirma an der Bre - mer Berufsschule. Hier lernen angehende Wirtschafts assistentinnen und -assistenten der Fachrichtung Fremdsprachen ganz praktisch, wie der Aus- tausch mit ausländischen Geschäftspartnern funktioniert. Das Ausbildungskonzept faszinierte die Shanghai I&C Foreign Language School so sehr, dass sie Nils Peschke 2018 als Gastdozenten engagierte. Kurz darauf startete er gemeinsam mit seiner chinesischen Kollegin Wang XiuXiu den ersten Schüleraustausch – mit Besuch und Gegenbesuch noch im November 2019. Dabei erwarben die Auszubildenden nicht nur wertvolles Fachwissen für den Handel mit dem wichtigen Wirtschaftspartner, sondern lernten auch das Leben ihrer chinesischen Gastfamilien kennen. Improvisation fördert Kommunikation Beim Nachfolgeprojekt »Leben in Hafenstädten« durchkreuzte dann Corona die Reisepläne. Für den engagierten Berufsschullehrer war dies eine Herausforderung, die er mit seinen Schülerinnen und Schülern unbedingt meistern wollte. Von Mai bis Oktober 2021 setzten sie ihr Vorhaben rein digital um, trotz anfänglicher Skepsis. »Ich hatte anfangs Zweifel, ob die Zusammenarbeit funktioniert, ohne sich persönlich zu treffen. Aber ich war überrascht, wie viel man selbst virtuell voneinander mitbekommt«, sagt die 18-jährige Vanessa Büntig. Außerhalb der vier Videokonferenzen kommunizierten die Partner auf Englisch über E-Mail und den chinesischen Messenger WeChat. Wie akribisch sich die chinesischen Lernpartner auf das erste digitale Treffen vorbereitet haben, daran erinnert sich Marlene Kautz noch genau: »Sie hatten einen detaillierten Zeitplan, mussten ihn aber nach fünf Minuten über den Haufen werfen und improvisieren. Dadurch ist ein ganz neues Miteinander entstanden.« Und ihre Mitschülerin Sina Peetz erläutert, dass immer der fachliche Austausch im Vordergrund stand: »Über Privates oder Themen wie Musik und Freizeit haben wir kaum geredet. Das hat die Kooperation aber nicht weniger interessant gemacht.« 34 austausch bildet
Erfahrungen 35 Wissen, wie der Partner tickt So erfuhren die jungen Leute in Shanghai und der Hansestadt viel Neues, Überraschendes und Kurioses voneinander. Wie »Multikulti« in Bremen funktioniert, wo rund jeder dritte Stadtbewohner eine Migrationsgeschichte hat, dass in Bremerhaven die Schiffe für deutsche Auswanderer ausliefen, dass ein Autokennzeichen in der chinesischen Wirtschaftsmetropole im Schnitt stolze 12 000 Euro kostet oder dass dort Fußgänger, die eine rote Ampel überqueren, eine Standpauke über einen Lautsprecher befürchten müssen. Big brother is watching you! Dass selbst so heikle Themen wie die allgegenwärtige Überwachung angesprochen werden konnten, betrachtet Nils Peschke als Vertrauensbeweis. »Wir haben respektvoll, aber durchaus kontrovers miteinander diskutiert«, sagt er. Wichtige berufliche Lektionen Dabei lernten die Jugendlichen wichtige Lektionen für spätere berufliche Kontakte – etwa die, dass chinesische Partner nie öffentlich bloßgestellt werden sollten, weil das »Gesicht verlieren« eine gewaltige Kränkung ist. Wer dies beherzigt und zudem mit Stäbchen essen kann, darf sich des Respekts seines Handelspartners sicher sein. Marlene Kautz freute sich deshalb über eine exklusive Anleitung: »Ein Schüler hat mir bei einer Videokonferenz gezeigt, wie man die Stäbchen hält. Das konnte ich dann in Korea ausprobieren.« Dorthin nämlich hatte Nils Peschke im Mai vergangenen Jahres den nächsten analogen Schüleraustausch organisiert. Er hofft, dass bald auch wieder Reisen nach Shanghai möglich sind. Und weil seine Schule seit zwei Jahren Mandarin als Fremdsprache anbietet, war die Begrüßung »Ni hao« sicher erst der Auftakt zu einer aussichtsreichen deutsch-chinesischen Freundschaft. — Die Autorin ist Journalistin in Bonn. Mehr Informationen über die Angebote des PAD und den Schulpartnerschaftsfonds Deutschland – China gibt es hier www.kmk-pad.org/programme/ schulpartnerschaftsfonds-deutschland-china.html nachgefragt Lernen, wie der andere »tickt« Nils Peschke koordiniert den deutsch-chinesischen Austausch am Schulzentrum Utbremen. Was konnten die deutschen und chinesischen Partner voneinander lernen? Anfangs waren beide Gruppen bei ihren virtuellen Begegnungen sehr aufgeregt. Zu Übungszwecken ein Verkaufsgespräch auf Englisch zu führen, bedeutet ja eine große Herausforderung. Doch dann erlebten sie, dass ihr Gegenüber ebenso großen Respekt vor der Videokonferenz hat, wie sie selbst, dass sie es aber gemeinsam schaffen können. Das ist eine Win-win-Situation an der alle wachsen. Wie haben Sie Ihre Schülerinnen und Schüler zum ausschließlich virtuellen Austausch motiviert? Sie waren von sich aus mit großem Eifer und Spaß bei der Sache. Motiviert hat sie auch, dass wir immer die Hoffnung hatten, dass die Corona-Quarantänepflicht aufgehoben wird und wir doch noch nach Shanghai reisen könnten. Einige Schülerinnen und Schüler sind dann im Jahr darauf nach Asien gefahren, zwar nicht nach China, aber nach Korea. Worin betrachten Sie den Gewinn des Projekts? Jeder kulturelle Austausch, egal ob virtuell oder real, eröffnet neue Horizonte. Ein Beispiel: Wir haben die chinesischen Jugendlichen als zurückhaltender erlebt, sie sprechen Dinge nicht immer direkt an. Zu lernen, wie das Gegenüber »tickt« und sich darauf einzustellen, ist eine wertvolle Erfahrung. Beide Seiten haben die Werte einer anderen Kultur kennen- und schätzen gelernt. Und auch beruflich ist der Kontakt mit dem wichtigen Handelspartner China für unsere angehenden Wirtschaftsassistentinnen und -assistenten ein enormer beruflicher Gewinn.
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